The purpose of this blog is to provide analytical commentary on formal and informal labour organisations and their attempts to resist ever more brutal forms of exploitation in today’s neo-liberal, global capitalism.

Wednesday 14 February 2024

Kai Wiedenhöfer, 3. März 1966 - 9. Januar 2024!


Fotografie war Kais Leben. Es begann damit, dass er die Portraits aller Schülerinnen und Schüler für die Abschlusszeitung unseres Abiturjahrganges 1986 am Ludwig-Uhland Gymnasium in Kirchheim unter Teck aufnahm. Ab da gab es kein Zurück mehr.

 

Ich erinnere mich noch genau als ich im Sommer 1989 mit dem Fahrrad nach Kirchheim unter Teck radelte. Plötzlich wurde ich von Kai mit seinem Motorrad überholt. Begeistert berichtete er mir davon, dass es im zweiten Anlauf geklappt hatte und er einen Studienplatz an der Folkwang Universität der Künste in Essen erhalten hatte.

 

Zwei Themen beschäftigten Kai besonders: Mauern und der Israel – Palästina Konflikt. Als die ersten Meldungen am 9. November 1989 über die Maueröffnung  in den Nachrichten gesendet wurden, entschloss sich Kai spontan nach Berlin zu fahren. Den Fall der Mauer selbst miterlebt zu haben, beeinflusste ihn zutiefst. Einige seiner frühen, besten Fotos sind aus dieser Zeit. Der Fall der Berliner Mauer bedeutete für ihn einen großen Moment der Hoffnung. Es schien doch möglich, tiefe Gräben zwischen Menschengruppen überwinden zu können und ein friedliches Zusammenleben zu gestalten. Umso enttäuschter war er im Lauf der Jahre darüber, dass anstatt weniger Mauern, neue errichtet wurden: ob zwischen den USA und Mexico, oder zwischen Ungarn und Serbien wie auch Kroatien, und natürlich vor allem auch die Mauer, die Israel zwischen sich und den besetzten palästinensischen Gebieten errichtete. Sein n chstes Buch Wall and Peace, das fertiggestellt ist und hoffentlich auch noch gedruckt wird, beschäftigt sich vor allem mit letzterer Mauer.

 

Kai war zutiefst erschreckt über den Holocaust. Wie konnte die Generation unserer Großeltern an einem derartigen Verbrechen beteiligt sein? So war es nur konsequent, dass Israel zu einem Hauptarbeitsgebiet für ihn wurde. Seine Pro-Israel-Haltung wurde jedoch schon früh erschüttert. Vor Ort wurde er tagtäglich Zeuge der Brutalit t und Menschenverachtung, mit der viele Israelis und vor allem der israelische Staat die Palästinenser behandelte. Wir wissen heute, dass Israel gezielt auf Journalisten schießt. Mitte der 90er Jahre erfuhr dies Kai am eigenen Leibe, als er knapp unterhalb der Kniescheibe von einem Scharfschützen getroffen wurde. Er kam mit einer Fleischwunde davon.

 

Aber Kai war kein Kriegsfotograf, kein Sensationsfotograf. Einsätze im Libanonkrieg 2006 und später dann in Aleppo und Kobane waren eher die Ausnahme. Er porträtierte das tägliche Leben, Menschen im Alltag. Um besser mit Palästinensern in Kontakt zu kommen, studierte er 1991/1992 Arabisch in Damaskus. Und er gewann das Vertrauen der Leute. Schon bald wurde er im Gazastreifen und Westjordanland Habib al-Schaab, Freund der Leute, genannt. Es war diese Nähe, die es ihm erlaubte, das tägliche Leiden der Palästinenser unter der israelischen Besatzung, aber auch ihre Freuden und Hoffnungen so eindeutig darzustellen.

 

Schaut man auf sein Werk über Mauern und den Israel-Palästina-Konflikt, so kommt es nicht von ungefähr, dass die Internationale Liga für Menschenrechte ihm 2016 die Carl von Ossietzky Medaille überreichte. In ihrer Begründung schrieb die Organisation unter anderem:

 

‘Kai Wiedenhofer’s photographical work mirrors the terror and despair of systematic human rights violations caused by walls, fences, and borders. On his travels through numerous countries, he depicts walls as symbols for political arbitrariness and draws attention to the injustice of poverty, so often underestimated and overlooked’ (https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/germany/carl-von-ossietzky-medal-2016-to-sos-mediterranee-and-the-documentary; 14/01/2024).

 

Der erneute Krieg im Nahen Osten bestürzte Kai zutiefst. Er war nie ein Freund der Hamas und ihrer Gewaltmethoden gewesen, aber die kollektive Bestrafung unschuldiger Palästinenser durch Israel, das Töten tausender Kinder durch das israelische Militär fand er erschreckend. Was ihn in einem unserer letzten Telefongespräche jedoch am meisten verärgerte, war die bedingungslose Unterstützung Israels durch die deutsche Regierung und vieler Deutschen. Wie kann man denn Wiedergutmachung für den Holocaust leisten, so fragte er, in dem man jetzt einen Genozid an den Palästinensern unterstützt? Was haben Deutschland und die Deutschen denn aus ihrer Geschichte gelernt?

 

Kai erhielt mehrere internationale Auszeichnungen für seine Fotografie (http://kaiwiedenhoefer.com/bio, 14/01/2024). Er war zweifellos ein Fotograf von international anerkannter Weltklasse. Nachrufe im Stern und Geo Magazin bezeugen das. Und doch, wer ihn traf und nichts davon wusste, hätte ihm das nicht angemerkt. Stets blieb er er selbst: sehr bescheiden, nie angeberisch.

 

Auch Kais nächstes Projekt über den Klimawandel beschäftigte sich mit einem grundlegenden Problem der Menschheit. Erste Bilder entstanden bereits in Reisen nach Indien, Alaska sowie in die Alpen. Leider wird dieses Projekt nun nicht mehr vollendet werden. Am 25. Dezember 2023 erlitt Kai einen Herzinfarkt beim Fahradfahren und fiel in ein Koma. Am 9. Januar 2024 starb er im Krankenhaus in Ulm.


Andreas Bieler


Professor of Political Economy
University of Nottingham/UK

Andreas.Bieler@nottingham.ac.uk

14 February 2024

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